KG Berlin zu Hasskommentaren: Wann die Herausgabe von Nutzerdaten bei Beleidigungen im Netz rechtlich zulässig ist – Entscheidung 10 W 13/20 vom 11.03.2020 im Detail

Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 11.03.2020, Az. 10 W 13/20) hat in einem aufsehenerregenden Fall die Voraussetzungen und Grenzen der Herausgabe von Nutzerdaten durch soziale Netzwerke bei strafbaren Beleidigungen im Internet detailliert beleuchtet. Die Entscheidung betrifft zentrale Fragen des Reputationsschutzes, der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG sowie der datenschutzrechtlichen Schranken bei der Identifizierung anonymer Nutzer. Der Fall liefert wertvolle Argumente und Klarstellungen für Anwälte, Geschädigte und Betreiber sozialer Plattformen gleichermaßen.

Sachverhalt

Im Zentrum des Verfahrens steht eine prominente Politikerin, die auf der Social-Media-Plattform „X“ durch zahlreiche diffamierende Kommentare anonym beleidigt wurde. Auslöser war ein manipulierter „Ausgangspost“, der der Politikerin eine verfälschte Aussage in den Mund legte: Ein tatsächlicher Zwischenruf aus dem Jahr 1986 wurde aus dem Kontext gerissen und um einen zusätzlichen, skandalösen Satz ergänzt. Dadurch wurde suggeriert, sie befürworte sexuellen Kontakt mit Minderjährigen. Die Folge: mehr als 20 beleidigende und entwürdigende Kommentare durch andere Nutzer.

Ziel der Politikerin war es, durch das Gericht die richterliche Gestattung zur Herausgabe der Nutzerdaten (Name, E-Mail, IP-Adresse, Zeitstempel) gemäß § 14 Abs. 3 und 4 TMG zu erlangen.

Rechtlicher Rahmen

Gemäß § 14 TMG ist eine Auskunft über Bestandsdaten grundsätzlich nur mit Einwilligung des Nutzers oder auf richterliche Anordnung möglich. § 14 Abs. 4 TMG ermöglicht dies bei Straftatbeständen, insbesondere bei sogenannten „rechtswidrigen Inhalten“ gemäß § 1 Abs. 3 NetzDG – darunter auch die §§ 185–187 StGB (Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung).

Das KG Berlin prüfte also, ob die jeweiligen Kommentare diese Schwelle überschreiten und somit die datenschutzrechtlichen Hürden überwunden werden können.

Kernpunkte der Entscheidung

1. Unterscheidung zwischen Meinungsfreiheit und strafbarer Beleidigung

Das Gericht stellt klar: Auch drastische, überzogene Kritik ist vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit geschützt – solange eine inhaltliche Auseinandersetzung erkennbar ist. Eine Grenze ist jedoch dort erreicht, wo die Äußerung zur reinen Herabwürdigung der Person wird („Schmähkritik“) oder als Formalbeleidigung einzuordnen ist. Diese sind nicht durch Art. 5 GG geschützt.

2. Maßstab für die Herausgabe von Nutzerdaten

Nicht jede rüde Wortwahl berechtigt zur Datenherausgabe. Nur wenn ein Kommentar den objektiven Tatbestand einer strafbaren Beleidigung erfüllt, ist der datenschutzrechtliche Schutz des Nutzers überwindbar. Das Gericht betont ausdrücklich: Der Anspruch ist keine allgemeine zivilrechtliche Hilfestellung, sondern auf Fälle schwerwiegender Persönlichkeitsrechtsverletzungen beschränkt.

3. Bewertung der konkreten Kommentare

Das Gericht hat die beanstandeten Kommentare einzeln geprüft und in zwei Gruppen aufgeteilt:

Kommentare, bei denen die Herausgabe der Daten gestattet wurde:

Beispielsweise:

  • „Knatter sie doch mal einer so richtig durch, bis sie wieder normal wird“
  • „Pfui, du altes grünes Dreckschwein…“
  • „Sie alte perverse Drecksau!!!!! Schon bei dem Gedanken an Sex mit Kindern muss das Hirn wegfaulen!!!!!“

Hier bejahte das KG Berlin den Tatbestand der Beleidigung. Diese Äußerungen seien vollständig aus dem Rahmen einer sachbezogenen Auseinandersetzung herausgelöst und erfüllten die Kriterien einer Schmähkritik. Sie dienten ausschließlich der persönlichen Diffamierung.

Kommentare, bei denen die Herausgabe abgelehnt wurde:

Beispielsweise:

  • „Pädophilen-Trulla“
  • „Gehirn amputiert“
  • „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“

Zwar handelt es sich auch hier um stark herabsetzende, beleidigende Aussagen, jedoch liege laut Gericht kein Fall der Schmähkritik oder Menschenwürdeverletzung vor. Die Kommentierenden hätten sich – wenngleich in polemischer Sprache – mit dem Inhalt des Ausgangsposts auseinandergesetzt. Die Meinungsfreiheit wiege hier schwerer, auch wenn die Aussagen distanzlos und respektlos seien.

Besonderheiten im Verfahren

A. Verhältnis zwischen Ausgangspost und Kommentaren

Das Gericht betont, dass Kommentatoren sich nicht zwingend bewusst sein müssen, dass sie auf eine verfälschte Quelle reagieren. Ein durchschnittlicher Nutzer sei nicht verpflichtet, tiefgreifende Hintergrundrecherchen durchzuführen. Solange ein Kommentar an einen augenscheinlich „ernstgemeinten“ Beitrag anknüpft, sei er aus dessen Kontext heraus zu interpretieren.

B. Rolle von Politikern als „Personen des öffentlichen Lebens“

Politiker müssen, so das KG Berlin, härtere Angriffe hinnehmen als Privatpersonen. Sie sind Teil der öffentlichen Debatte und müssen sich – auch drastischer – Kritik stellen. Diese „Resilienzpflicht“ beeinflusst die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht erheblich.

C. Verhältnis zur Verfälschung durch den Ausgangspost

Zwar könne die Antragstellerin gegen den ursprünglichen Verfasser des manipulierten Posts (also den Blogger) erfolgreich vorgehen, doch gelte dies nicht automatisch für jeden, der darauf reagiert. Die Kommentare seien als eigenständige Handlungen zu werten und nicht automatisch dem Ursprungspost gleichzusetzen.

Praktische Bedeutung für Reputationsmanagement und Rechtsdurchsetzung

Für Betroffene von Hasskommentaren bedeutet diese Entscheidung:

  • Nur besonders schwerwiegende Angriffe rechtfertigen die richterliche Anordnung zur Datenherausgabe.
  • Begründung der Strafbarkeit im Einzelfall ist zentral – allgemeine „Unangemessenheit“ reicht nicht.
  • Die Schwelle ist besonders hoch bei öffentlichen Persönlichkeiten.
  • Dokumentation und sorgfältige rechtliche Prüfung jedes Kommentars ist entscheidend für den Erfolg eines Antrags.

Für Anwälte, die sich auf das Löschen von Bewertungen und Online-Rufschutz spezialisiert haben, ist dieses Urteil ein Referenzfall: Es zeigt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um anonyme Nutzer zu identifizieren und effektiv gegen sie vorzugehen.

Fazit

Der Beschluss des Kammergerichts Berlin bietet eine präzise und rechtssichere Orientierung im Spannungsfeld zwischen Datenschutz, Meinungsfreiheit und Ehrschutz. Für das Reputationsmanagement – insbesondere für prominente Personen und deren rechtliche Vertreter – markiert die Entscheidung einen klaren Maßstab:

  • Nicht jede Diffamierung ist justiziabel,
  • nicht jede Herabwürdigung überwindet den Datenschutz,
  • und nicht jeder Angriff berechtigt zur Identifikation des Verfassers.

Doch wo die Grenze überschritten wird, darf und muss das Recht auf Schutz des eigenen Ansehens durchsetzbar sein – auch unter dem Schleier der Anonymität des Internets.

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