Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Hintergrund des Verfahrens
Der vorliegende Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 2. Juli 2013 befasst sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Ausgangspunkt ist eine zivilgerichtliche Auseinandersetzung zwischen zwei Rechtsanwälten, in deren Mittelpunkt die Bezeichnung „Winkeladvokat“ stand – ein Begriff mit negativ konnotierter Bedeutung im anwaltlichen Kontext.
Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, hatte diese Bezeichnung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens gegen einen Kollegen verwendet. Die Vorinstanzen – das LandgerichtEin Landgericht ist ein Gericht der ordentlichen Gerichtsbar... Mehr und das OberlandesgerichtEin Oberlandesgericht (OLG) ist ein Gericht der oberen Insta... Mehr Köln – werteten die Äußerung als unzulässige Schmähkritik bzw. als unangemessene Diffamierung. Sie untersagten die weitere Verbreitung. Der betroffene Anwalt erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde.
2. Der Sachverhalt im Detail
Der Beschwerdeführer war in einem Arzthaftungsprozess als Vertreter einer Patientin tätig. Der gegnerische Anwalt – Kläger im Ausgangsverfahren – vertrat gleich zwei Zahnärzte in derselben Sache. Der Beschwerdeführer hielt dies für unvereinbar mit dem anwaltlichen Berufsrecht und warf seinem Kollegen einen Interessenkonflikt sowie einen Verstoß gegen die Wahrheitspflicht vor.
In einer Stellungnahme an die Rechtsanwaltskammer bezeichnete der Beschwerdeführer das Vorgehen des Kollegen als „geschickte Verpackung“ einer Kanzlei, die je nach Vorteil mal als Sozietät, mal als Kooperation auftrete. Diese Praxis apostrophierte er – in Anführungszeichen gesetzt – als „Winkeladvokatur“.
Die Bemerkung wurde später in einen Schriftsatz in einem weiteren Zivilverfahren eingeführt, um auf mögliche Parallelen zu den gesellschaftsrechtlichen Strukturen der betroffenen Zahnarztpraxis hinzuweisen.
3. Entscheidungen der Vorinstanzen
Landgericht Köln:
Das Landgericht wertete die Bezeichnung „Winkeladvokat“ als Schmähkritik. Es sah den notwendigen Sachbezug als nicht gegeben an und beurteilte die Formulierung als bloße persönliche Herabsetzung des betroffenen Kollegen. Dementsprechend wurde dem Beschwerdeführer untersagt, diese Bezeichnung zukünftig zu verwenden.
Oberlandesgericht Köln:
Das OLG Köln bestätigte die Entscheidung, ohne abschließend zu klären, ob es sich tatsächlich um Schmähkritik handele. Es führte jedoch eine Interessenabwägung zugunsten des Klägers durch. Der Begriff „Winkeladvokat“ bringe eine niedrige fachliche Eignung sowie Zweifel an der Seriosität zum Ausdruck. Die Äußerung sei für den konkreten Anlass unangemessen und überflüssig.
4. Verfassungsbeschwerde und Begründung
Der betroffene Anwalt erhob Verfassungsbeschwerde mit der Begründung, dass seine Grundrechte auf Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit sowie rechtliches Gehör verletzt worden seien.
Das BundesverfassungsgerichtDas Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist das höchste deuts... Mehr erklärte die Verfassungsbeschwerde – soweit sie die Meinungsfreiheit betrifft – für zulässig und begründet. Die Entscheidungen der Vorinstanzen verletzten den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
5. Begründung des Bundesverfassungsgerichts
a) Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte seine ständige Rechtsprechung, wonach Werturteile – selbst in überspitzter Form – grundsätzlich vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Der Begriff „Winkeladvokat“ sei zwar negativ, falle jedoch in diesen Bereich, solange ein hinreichender Sachbezug zur Äußerung bestehe.
b) Grenzen der Meinungsfreiheit
Die Meinungsfreiheit findet ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen (§ 823 BGB, § 1004 BGB i.V.m. §§ 185 ff. StGB). Die Fachgerichte sind verpflichtet, diese Schranken in grundrechtskonformer Weise auszulegen. Eine vollständige Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und der Meinungsfreiheit des Äußernden ist dabei zwingend.
c) Maßstab für Schmähkritik
Eine Schmähkritik liegt nur in Ausnahmefällen vor – insbesondere dann, wenn die Diffamierung der Person im Vordergrund steht und nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache. Dies ist bei öffentlichen Meinungsäußerungen besonders streng zu beurteilen, da die Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert besitzt.
d) Anwendung auf den konkreten Fall
Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass die Bezeichnung „Winkeladvokatur“ in dem gegebenen Kontext nicht als Schmähkritik einzuordnen sei. Der Beschwerdeführer habe die Äußerung im Rahmen einer sachbezogenen Diskussion vorgenommen – zunächst gegenüber der Rechtsanwaltskammer, später innerhalb eines Gerichtsverfahrens. Eine rein persönliche Diffamierung sei daraus nicht abzuleiten.
Zudem habe die Äußerung nur in einem begrenzten, nicht-öffentlichen Rahmen stattgefunden – nämlich im Schriftsatzverkehr mit Gericht und Prozessbeteiligten. Der Begriff sei zudem in Anführungszeichen gesetzt worden und habe sich inhaltlich auf die Kanzleistruktur bezogen, nicht auf die Person des gegnerischen Anwalts.
Das Oberlandesgericht habe das Persönlichkeitsrecht des Klägers übermäßig gewichtet und dem Schutz der Meinungsfreiheit zu wenig Beachtung geschenkt.
6. Folgen des Beschlusses
Das Bundesverfassungsgericht hob die Urteile des Landgerichts und Oberlandesgerichts auf und verwies den Fall zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Köln zurück. Dabei wies es darauf hin, dass eine Einschränkung der Meinungsfreiheit nur im unbedingt erforderlichen Maß erfolgen dürfe.
Der Beschwerdeführer erhielt zudem seine notwendigen Auslagen erstattet, und der Streitwert des Verfahrens wurde auf 25.000 Euro festgesetzt.
7. Bedeutung für die anwaltliche Praxis und das Reputationsmanagement
Der Beschluss hat weitreichende Bedeutung für die anwaltliche Praxis, insbesondere in Bezug auf:
- Die Zulässigkeit scharfer Kritik in rechtlichen Verfahren: Auch pointierte oder polemische Aussagen sind zulässig, wenn ein sachlicher Bezug besteht.
- Meinungsäußerungen in Schriftsätzen: Aussagen in einem gerichtlichen Verfahren unterliegen besonderen Schutzmechanismen. Die Hürde für eine unzulässige Äußerung ist höher als im öffentlichen Diskurs.
- Grenzen der Schmähkritik: Eine vorschnelle Einordnung kritischer Aussagen als Schmähkritik kann mit der Meinungsfreiheit kollidieren.
- Verteidigung gegen Rufschädigungsvorwürfe: Der Beschluss stärkt die Position von Anwälten, die sich gegen Vorwürfe der Persönlichkeitsrechtsverletzung zur Wehr setzen müssen.
8. Fazit
Das Bundesverfassungsgericht hat mit diesem Beschluss ein klares Signal für den Schutz der Meinungsfreiheit – auch im anwaltlichen Kontext – gesetzt. Der Begriff „Winkeladvokat“ mag unsachlich oder abwertend wirken, ist aber nicht automatisch eine Schmähkritik. Entscheidend ist stets der Kontext, insbesondere ob ein sachlicher Bezug gegeben ist.
Gerade im Bereich des Reputationsmanagements und bei der Abwehr rufschädigender BewertungenBewertungen sind Rückmeldungen oder Beurteilungen von Produ... Mehr bietet der Beschluss eine wichtige Orientierung: Nicht jede kritische Äußerung ist gleich rechtswidrig. Für Anwälte, die im Reputationsschutz tätig sind, verdeutlicht das Urteil die Bedeutung einer differenzierten rechtlichen Bewertung – insbesondere im Rahmen gerichtlicher Auseinandersetzungen.