Verletzende Äußerungen im Internet: Das Bundesverfassungsgericht stärkt das Persönlichkeitsrecht (Beschluss vom 19.12.2021, 1 BvR 1073/20)

Die Digitalisierung hat die Kommunikation grundlegend verändert. Nie zuvor konnten persönliche Äußerungen mit einer solchen Reichweite und Geschwindigkeit verbreitet werden wie heute. Gerade soziale Netzwerke bieten eine Plattform für gesellschaftliche Debatten, bergen aber auch erhebliche Risiken für die persönliche Ehre von Menschen, die ins Visier öffentlicher Kritik geraten. Das Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz ist allgegenwärtig, wie ein aktueller Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 2021 (Az. 1 BvR 1073/20) exemplarisch zeigt.

Hintergrund des Verfahrens: Diffamierung im Internet und der Versuch, sich zu wehren

Im Mittelpunkt des Verfahrens stand eine Politikerin, die auf einem Blog und sodann in den sozialen Medien diffamierenden und zum Teil ehrverletzenden Kommentaren ausgesetzt war. Auslöser war ein Blogbeitrag, in dem der Name der Beschwerdeführerin mit einer angeblichen Aussage über die Strafbarkeit von Sexualdelikten an Kindern verbunden wurde. In den Folgejahren kam es zu massiven Beschimpfungen und Verunglimpfungen der Beschwerdeführerin auf einer Facebook-Seite, darunter zahlreiche abwertende und sexistische Kommentare.

Die Politikerin suchte daraufhin rechtlichen Schutz und beantragte beim Landgericht Berlin gestützt auf das damalige Telemediengesetz (TMG) die gerichtliche Anordnung zur Auskunft über die Bestandsdaten der Facebook-Nutzer, um zivilrechtlich gegen die Verfasser vorgehen zu können. Die Gerichte jedoch verneinten überwiegend einen Anspruch auf diese Auskunft und sahen in den Facebook-Kommentaren zulässige Meinungsäußerungen, denen der Ehrschutz der Betroffenen zurücktreten müsse.

Was sind Bestandsdaten – und warum sind sie im Internet so wichtig?

Bestandsdaten sind personenbezogene Daten, die zur Begründung, inhaltlichen Ausgestaltung oder Änderung eines Nutzungsverhältnisses zwischen dem Nutzer und dem Diensteanbieter erforderlich sind – sprich: Name, Anschrift, E-Mail-Adresse, IP-Adresse. Sie sind der Schlüssel, um im anonymen Internet überhaupt gegen Rechtsverletzer vorgehen zu können. Ohne Auskunft über diese Daten bleibt Betroffenen nicht selten nur hilfloses Zuschauen, wie Persönlichkeitsrechtsverletzungen ungestraft fortgesetzt werden.

Aus diesem Grund normiert das deutsche Recht – heute im Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetz (TTDSG) – einen Anspruch auf behördliche oder gerichtliche Anordnung, damit Plattformbetreiber Daten herausgeben müssen, wenn bestimmte Straftaten im Raum stehen, insbesondere Beleidigung (§ 185 StGB) oder üble Nachrede (§ 186 StGB).

Die ablehnenden Entscheidungen der Vorinstanzen und ihre Begründung

Das Landgericht Berlin hatte den Antrag der Politikerin zunächst gänzlich abgelehnt. Begründung: Auch wenn die Kommentare teilweise sehr drastisch und sexistisch seien, handele es sich insgesamt noch um zulässige Meinungsäußerungen. Die Betroffene habe durch ihr Verhalten in der Vergangenheit zusätzlichen Anlass zur Kritik gegeben. Lediglich auf Beschwerde hin gestand das Landgericht für einige besonders herabsetzende Kommentare einen Anspruch auf Auskunft zu.

Das Kammergericht ging kaum weiter: Für einige Statements wurde eine Beauskunftung zugelassen, für andere – insbesondere den Kommentar „Pädophilen-Trulla“ – nicht. Die Richter verwiesen auf die Bedeutung der Meinungsfreiheit und erkannten zwar ehrkränkende Herabsetzungen, sahen aber keinen Straftatbestand der Beleidigung verwirklicht. Sie argumentierten, dass eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB vor allem dann vorliege, wenn ein Beitrag ausschließlich der Diffamierung diene und ohne Sachbezug sei, also die Schwelle zur Schmähkritik oder Formalbeleidigung überschreite. Eine weitergehende Interessenabwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit unterblieb.

Der Gang zum Bundesverfassungsgericht

Die Beschwerdeführerin wandte sich an das Bundesverfassungsgericht. Sie rügte, in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt zu sein. Die Instanzgerichte hätten die zur Wahrung ihres Persönlichkeitsrechts erforderliche Interessenabwägung unterlassen und somit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung zu viel Gewicht eingeräumt.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Grundrechtsschutz muss abgewogen werden

Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und bestätigte die Sichtweise der Beschwerdeführerin. Es stellte klar: Die Instanzgerichte hätten die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung der betroffenen Grundrechte nicht ordnungsgemäß durchgeführt. Die Schutzwürdigkeit des Persönlichkeitsrechts dürfe nicht automatisch hinter die Meinungsfreiheit gestellt werden. Eine Behauptung oder Wertung ist nicht erst dann beleidigend, wenn sie jeglichen Sachbezug vermissen lässt – eine solche Gleichsetzung der einfachen Beleidigung mit der Schmähkritik ist juristisch falsch.

Stattdessen erfordert der Tatbestand der Beleidigung nach § 185 StGB in aller Regel eine konkrete Abwägung im Einzelfall: Welchen Sinngehalt hat die jeweilige Äußerung? Wie ist sie zu verstehen – nach objektivem Maßstab, aus der Sicht eines unvoreingenommenen Durchschnittspublikums? Welcher Kontext bestand? Welche Auswirkungen hat die Verbreitung, besonders im Internet? Gerade die Reichweite und Wirkung sozialer Medien kann die Intensität der Persönlichkeitsverletzung verstärken.

Das Gericht betont ausdrücklich, dass die Gerichte im Ausgangsfall keine solchen Erwägungen angestellt, sondern sich mit pauschalen Aussagen begnügt hätten.

Die Leitlinien des Gerichts für die Praxis

Das Bundesverfassungsgericht nutzte die Gelegenheit, um noch einmal wichtige Maßstäbe für das Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz im Internet zu formulieren – mit erheblicher Bedeutung für spätere juristische Praxis:

  1. Keine Gleichsetzung von Beleidigung und Schmähkritik: Die bloße Einordnung als besonders krasse Schmähkritik ist nicht Voraussetzung für den Ehrschutz. Auch eine „einfache“ Beleidigung kann – nach entsprechender Abwägung – den Auskunftsanspruch begründen.
  2. Notwendige Abwägung der Grundrechte: Zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) ist stets eine sorgfältige Abwägung vorzunehmen. Das bedeutet: Weder genießt die Meinungsfreiheit einen automatischen Vorrang, noch ist das Persönlichkeitsrecht stets stärker zu gewichten.
  3. Umstände des Einzelfalls entscheidend: Inhalt, Form, Anlass und Wirkung einer Äußerung sind einzubeziehen. Es kommt auf den Charakter des Kommentars, den Kontext, die Person der Betroffenen und die konkrete Reichweite an.
  4. Besonderer Schutzbedarf von Amtsträgern und Politikern: Das Gericht erkennt an, dass Politiker mehr Kritik hinnehmen müssen als Privatpersonen – gleichwohl besteht kein Freibrief für Angriffe auf die Menschenwürde oder Herabwürdigungen ohne Sachbezug.
  5. Reichweite im Internet verstärkt die Verletzung: Die Breitenwirkung sozialer Netzwerke kann die Eingriffsintensität deutlich erhöhen und ist bei der rechtlichen Bewertung zu berücksichtigen.
  6. Bestandsdatenauskunft als Mittel des Rechtsschutzes: Die Identifizierung des Äußernden ist eine zwingende Voraussetzung, um zivilrechtlichen Schutz gegen Persönlichkeitsverletzungen zu gewährleisten.

Konkrete Folgen der Verfassungsgerichtsentscheidung

Das Bundesverfassungsgericht hob folgerichtig die beanstandeten Beschlüsse auf und verwies den Fall an das Kammergericht zurück. Jenes muss nun unter Beachtung der Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts erneut über den Anspruch auf Auskunft entscheiden. Die Beschwerdeführerin erhält damit eine neue Chance, die Identität der Verfasser der ehrverletzenden Kommentare zu erfahren und rechtlich gegen sie vorzugehen.

Zudem wurde das Land Berlin verpflichtet, die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin zu erstatten, was die Bedeutung des Verfahrens zusätzlich unterstreicht.

Bedeutung des Urteils für Betroffene von Internet-Hass und Rufschädigung

Das Urteil ist wegweisend für alle, die sich gegen Schmähkritik, Ehrverletzungen oder Cybermobbing im Internet zur Wehr setzen wollen – ganz gleich, ob es sich um Privatpersonen, Unternehmer oder Politiker handelt.

Betroffene erhalten die klare Botschaft: Sie haben einen grundrechtlich geschützten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, auch gegen anonyme Angriffe im Netz. Die Hürden, um die Identität der Verfasser von Hasskommentaren auf sozialen Plattformen in Erfahrung zu bringen, dürfen von Gerichten nicht unnötig hochgesetzt werden. Entscheidend ist vielmehr, dass jede Äußerung mit Blick auf ihren Gehalt, ihren Kontext und ihre Auswirkungen sorgfältig geprüft wird.

Praktische Empfehlungen: Wie kann ich mich schützen?

Wer im Internet zu Unrecht diffamiert oder beleidigt wird, sollte folgendes beachten:

  • Dokumentation: Anfertigen von Screenshots, falls möglich mit Zeitstempel und URL. Diese können später für gerichtliche Verfahren unverzichtbar sein.
  • Meldung an Plattformbetreiber: Sozialen Netzwerke verfügen in der Regel über Beschwerdemechanismen, über die ehrverletzende Kommentare gemeldet und deren Entfernung beantragt werden kann.
  • Antrag auf Auskunft: Ist die Identität des Verfassers unbekannt, kann bei entsprechender Schwere der Verletzung gemäß §§ 21 TTDSG und 185 StGB eine gerichtliche Anordnung zur Auskunft über Bestandsdaten beantragt werden.
  • Juristische Beratung: Gerade die Schwelle zwischen zulässiger Meinungsäußerung und strafbarer Beleidigung ist teilweise schwierig zu beurteilen. Fachanwaltliche Unterstützung ist dringend zu empfehlen, insbesondere bei drohender Rufschädigung für Personen des öffentlichen Lebens oder Unternehmen.

Fazit: Das Bundesverfassungsgericht stellt die Weichen neu

Mit seinem klaren Votum stärkt das Bundesverfassungsgericht das Persönlichkeitsrecht im Internet und verpflichtet die Gerichte, die Rechte von Betroffenen nicht vorschnell gegenüber der Meinungsfreiheit zurückzusetzen. Wer sich abwertenden, ehrverletzenden oder gar hetzerischen Kommentaren im Netz ausgesetzt sieht, kann und sollte den Rechtsweg beschreiten – und kann sich dabei auf die gefestigte Rechtsprechung unseres höchsten Gerichts berufen.

Das Urteil ist ein wichtiger Schritt zu mehr Rechtssicherheit und Schutz für alle, deren guter Ruf durch anonyme Angriffe im Netz in Frage gestellt wird. Zugleich markiert es eine deutliche Grenze: Die Freiheit im Netz ist kein Freibrief für die Verletzung der Rechte anderer. Für Betroffene ist dies ein bedeutsames Signal und gleichzeitig eine Aufforderung, ihre Rechte selbstbewusst zu verteidigen.

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