Das Spickmich-Urteil: Lehrer-Bewertungen im Netz – Was der BGH entschied und was das für Sie bedeutet

Als Fachanwalt für IT-Recht möchte ich heute mit Ihnen ein Urteil beleuchten, das Wellen geschlagen hat und auch Jahre später noch oft zitiert wird: das sogenannte „Spickmich“-Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 23. Juni 2009 (Az. VI ZR 196/08).

Vielleicht erinnern sich einige von Ihnen noch an die Plattform „Spickmich.de“. Dort konnten Schülerinnen und Schüler ihre Lehrerinnen und Lehrer anonym bewerten – in Kategorien wie „fachlich kompetent“, „gut vorbereitet“, aber auch „cool und witzig“ oder „beliebt“. Eine Lehrerin fühlte sich dadurch in ihren Rechten verletzt und zog vor Gericht. Der Fall ging bis zum BGH – und dessen Entscheidung wollen wir uns heute genauer ansehen.

Wichtig vorab: Dieses Urteil erging noch vor der Einführung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) im Jahr 2018. Die damals geltenden Gesetze, insbesondere das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) in seiner alten Fassung, sahen anders aus. Dennoch sind die grundlegenden Erwägungen des BGH zum Persönlichkeitsrecht und zur Meinungsfreiheit zeitlos und prägen die Rechtsprechung bis heute.

Worum ging es genau? Die Vorgeschichte

Die Plattform „Spickmich.de“ war als Community-Portal für Schüler konzipiert. Nach Registrierung (unter Angabe von Schule, Schulort, Benutzername und E-Mail-Adresse) konnten Nutzer nicht nur Profile anlegen und sich vernetzen, sondern im Bereich „Lehrerzimmer“ auch Lehrkräfte eintragen und bewerten. Die Kriterien reichten von fachlichen Aspekten („guter Unterricht“, „faire Noten“) bis hin zu eher persönlichen („menschlich“, „motiviert“). Aus mindestens zehn Einzelbewertungen (anfangs vier) wurde eine Gesamtnote gebildet. Zusätzlich gab es eine Funktion, um angebliche Zitate von Lehrern zu veröffentlichen.

Eine Lehrerin entdeckte, dass sie auf dieser Plattform mit Namen, Schule, Unterrichtsfach (Deutsch) und einer Durchschnittsnote von 4,3 (basierend auf vier Schülerbewertungen) gelistet war. Sie empfand dies als Eingriff in ihr Persönlichkeitsrecht und forderte die Betreiber der Plattform auf, ihre Daten zu löschen und zukünftig nicht mehr zu veröffentlichen.

Die Vorinstanzen, das Landgericht und das Oberlandesgericht Köln, wiesen die Klage der Lehrerin ab. Sie argumentierten im Wesentlichen, dass die Meinungsfreiheit der Schüler und das Informationsinteresse der Öffentlichkeit hier Vorrang hätten. Die Lehrerin ließ jedoch nicht locker und zog vor den Bundesgerichtshof.

Die Knackpunkte vor dem BGH: Ein Balanceakt der Grundrechte

Der BGH musste nun eine ganze Reihe komplexer juristischer Fragen klären:

  1. Haftung des Plattformbetreibers: Konnten die Betreiber von „Spickmich.de“ überhaupt für die von Schülern eingestellten Inhalte (Bewertungen) verantwortlich gemacht werden? Stichwort: Störerhaftung und Telemediengesetz (TMG).
  2. Datenschutz: War die Erhebung, Speicherung und Veröffentlichung der Daten der Lehrerin (Name, Schule, Fächer, Bewertungen) nach dem damals geltenden Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) zulässig?
  3. Persönlichkeitsrecht vs. Meinungsfreiheit: Wie sind das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Lehrerin (aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz) und die Meinungsfreiheit der Schüler bzw. die Kommunikationsfreiheit der Plattformbetreiber (Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz) gegeneinander abzuwägen?

Das sind die Kernfragen, um die sich das Urteil dreht. Und sie sind auch heute noch relevant, wenn es um Bewertungsportale, soziale Medien oder Foren geht.

Die Entscheidung des BGH im Detail – für Laien erklärt

Der BGH wies die Revision der Lehrerin zurück. Im Ergebnis durfte „Spickmich.de“ also weitermachen. Schauen wir uns die Begründung an:

1. Zur Haftung des Plattformbetreibers (Störerhaftung)

Der BGH stellte klar, dass die Betreiber von „Spickmich.de“ zwar nicht automatisch für jeden Inhalt voll verantwortlich sind, den Nutzer hochladen (das regelt § 10 TMG für sogenannte Hostprovider). Aber: Sie können als „Störer“ in Anspruch genommen werden. Ein Störer ist jemand, der – ohne selbst Täter oder Teilnehmer zu sein – willentlich und adäquat kausal zur Verletzung eines geschützten Rechtsguts beiträgt. Der BGH sagte, der Betreiber eines Internetforums ist „Herr des Angebots“ und kann daher auf Unterlassung und Löschung verklagt werden, wenn rechtswidrige Inhalte auf seiner Plattform stehen und er davon Kenntnis hat (oder hätte haben müssen und zumutbare Prüfpflichten verletzt).
Das bedeutet für Sie: Auch wenn Sie eine Plattform nicht selbst mit Inhalten füllen, können Sie als Betreiber unter Umständen für rechtswidrige Nutzerinhalte haftbar gemacht werden, insbesondere wenn Sie auf diese hingewiesen werden und nicht reagieren.

2. Datenschutzrechtliche Zulässigkeit (nach altem BDSG)

Das war ein zentraler Punkt. Die Daten der Lehrerin (Name, Schule, Fach) und die Bewertungen sind zweifellos personenbezogene Daten im Sinne des § 3 Abs. 1 BDSG (alte Fassung). Die Lehrerin hatte der Verarbeitung ihrer Daten nicht zugestimmt (§ 4 Abs. 1 BDSG a.F.). Also brauchten die Betreiber eine andere gesetzliche Erlaubnis.

  • Kein „Medienprivileg“: Der BGH verneinte die Anwendbarkeit des sogenannten Medienprivilegs (§ 41 BDSG a.F.). Dieses Privileg stellt journalistisch-redaktionelle Tätigkeiten von einigen strengen Datenschutzvorschriften frei. „Spickmich.de“, so der BGH, betreibe aber keine journalistische Tätigkeit. Das reine Sammeln und arithmetische Verarbeiten von Bewertungen sei keine redaktionelle Bearbeitung.
  • Erlaubnis nach § 29 BDSG (alte Fassung): Der BGH fand die Erlaubnis in § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG a.F. Diese Vorschrift erlaubte die geschäftsmäßige Erhebung und Speicherung personenbezogener Daten zum Zweck der Übermittlung, wenn kein Grund zu der Annahme besteht, dass der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Erhebung oder Speicherung hat.
    „Geschäftsmäßig“ bedeutete hier nicht zwingend gewinnorientiert, sondern eine auf Dauer angelegte, wiederholte Tätigkeit.
    Die Frage war also: Hatte die Lehrerin ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse daran, dass ihre Daten nicht auf „Spickmich.de“ erscheinen? Hier kam die große Grundrechtsabwägung ins Spiel.

3. Die Abwägung: Persönlichkeitsrecht vs. Meinungsfreiheit

Der BGH musste das Persönlichkeitsrecht der Lehrerin gegen die Meinungsfreiheit der Schüler und die Kommunikationsfreiheit der Plattformbetreiber (die ja den Meinungsaustausch ermöglichen) abwägen.

  • Das Persönlichkeitsrecht der Lehrerin: Dieses Grundrecht schützt den Einzelnen vor Eingriffen in seine persönliche Lebenssphäre. Es umfasst auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – also das Recht, grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Der BGH anerkannte, dass die Lehrerin durch die Bewertungen in diesem Recht berührt war.
    Allerdings ist dieses Recht nicht absolut. Es muss im Kontext der sozialen Gemeinschaft gesehen werden. Die Rechtsprechung unterscheidet verschiedene Sphären der Persönlichkeit (Intimsphäre, Privatsphäre, Sozialsphäre), die unterschiedlich stark geschützt sind. Die berufliche Tätigkeit einer Lehrerin, so der BGH, gehört zur Sozialsphäre. Hier muss sich der Einzelne Kritik und Beobachtung eher gefallen lassen als in der Intim- oder Privatsphäre.
  • Die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG): Dieses Grundrecht ist für eine demokratische Gesellschaft konstitutiv. Es schützt nicht nur „wertvolle“ oder „richtige“ Meinungen, sondern auch pointierte, kritische oder unbequeme Äußerungen. Die Bewertungen der Schüler sah der BGH als Meinungsäußerungen an. Auch wenn Kriterien wie „cool und witzig“ eher persönliche Eigenschaften betreffen, so würden diese doch im schulischen Wirkungskreis der Lehrerin wahrgenommen und spielten für ihr berufliches Wirken eine Rolle.
    Der BGH betonte, dass die Meinungsfreiheit auch die Wahl des Verbreitungsmediums (hier das Internet) und die Möglichkeit zur anonymen Äußerung umfasst. Gerade im hierarchischen Verhältnis Schüler-Lehrer könne Anonymität notwendig sein, damit Schüler sich trauen, ihre Meinung frei zu äußern, ohne Repressalien befürchten zu müssen.
  • Das Ergebnis der Abwägung: Der BGH kam zu dem Schluss, dass das schutzwürdige Interesse der Lehrerin hier nicht überwog.
    • Keine Schmähkritik: Die Bewertungen seien keine unsachliche Schmähkritik oder Formalbeleidigung, bei der die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.
    • Transparenz und Feedback: Die Plattform diene der Orientierung von Schülern und Eltern und ermögliche wünschenswerte Kommunikation und Transparenz. Lehrer erhielten ein (wenn auch subjektives) Feedback.
    • Erkennbarkeit der Subjektivität: Den Nutzern sei klar, dass es sich um subjektive Schülermeinungen handelt und nicht um eine objektive, wissenschaftliche Evaluation.
    • Begrenzte Eingriffsintensität: Die Daten würden nach 12 Monaten ohne Neubewertung gelöscht. Es gab Zugangsbeschränkungen durch Registrierung (Kenntnis der Schule nötig). Die Daten seien (damals) nicht einfach über Suchmaschinen auffindbar gewesen.
    • Keine „Prangerwirkung“: Eine generelle Prangerwirkung für Lehrer wurde nicht gesehen. Die Lehrerin hatte auch keine konkreten schwerwiegenden Nachteile durch die Bewertungen vorgetragen.

Daher war die Speicherung der Daten nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BDSG a.F. zulässig. Und wenn die Speicherung zulässig war, dann auch die Übermittlung (also die Anzeige der Daten für die Nutzer) an die abfragenden Nutzer nach § 29 Abs. 2 BDSG a.F. – auch hier nahm der BGH eine verfassungskonforme Auslegung vor, da die Vorschrift eigentlich vorsah, dass der Empfänger sein berechtigtes Interesse darlegen muss, was bei anonymen Internetnutzern kaum praktikabel ist.

Was ist mit der Zitat-Funktion?

Auch die Möglichkeit, Zitate einzustellen, sah der BGH nicht per se als rechtswidrig an. Zwar schützt das Persönlichkeitsrecht davor, dass einem Äußerungen in den Mund gelegt werden, die man nicht getätigt hat. Aber solange kein konkretes Falschzitat eingetragen war, bestand keine aktuelle Rechtsverletzung. Eine reine „Erstbegehungsgefahr“ (also die bloße Möglichkeit, dass etwas Rechtswidriges passieren könnte) sah der BGH hier nicht als ausreichend für ein Verbot der Funktion an.

Was bedeutet das „Spickmich“-Urteil heute noch? (Nach der DSGVO)

Das ist die spannende Frage! Das alte BDSG und insbesondere der § 29 gibt es so nicht mehr. Heute wäre die zentrale Vorschrift für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung Art. 6 DSGVO.

  • Rechtsgrundlage nach DSGVO: Eine Einwilligung der Lehrer (Art. 6 Abs. 1 lit. a DSGVO) wird meist nicht vorliegen. Denkbar wäre eine Verarbeitung zur Wahrung berechtigter Interessen des Plattformbetreibers oder Dritter (Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO), sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person (hier der Lehrer) überwiegen.
    Die Abwägung, die der BGH damals unter § 29 BDSG a.F. vorgenommen hat, wäre also in ähnlicher Weise unter Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO durchzuführen. Die Grundrechte (Persönlichkeitsrecht, Meinungsfreiheit) spielen hierbei eine entscheidende Rolle.
  • Stärkere Betroffenenrechte: Die DSGVO hat die Rechte der Betroffenen gestärkt (z.B. Recht auf Auskunft, Berichtigung, Löschung, Widerspruch). Ein Lehrer hätte heute möglicherweise bessere Chancen, gegen einzelne falsche Tatsachenbehauptungen in Bewertungen vorzugehen oder unter bestimmten Umständen die Löschung zu verlangen (Art. 17 DSGVO „Recht auf Vergessenwerden“).
  • Das „journalistische Privileg“ (Art. 85 DSGVO): Auch die DSGVO kennt eine Öffnungsklausel für die Verarbeitung zu journalistischen Zwecken. Die Einschätzung des BGH, dass Spickmich keine journalistische Tätigkeit ausübt, dürfte aber weiterhin Bestand haben.
  • Die Rolle der Anonymität: Die Frage der anonymen Meinungsäußerung im Netz bleibt ein Dauerthema. Das Recht auf freie Meinungsäußerung schließt grundsätzlich auch anonyme Äußerungen ein, aber es gibt Grenzen, insbesondere bei rechtswidrigen Inhalten.

Man kann also sagen: Die grundlegenden Abwägungsprinzipien des BGH zwischen Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit sind auch unter der DSGVO weiterhin relevant. Ob ein Fall wie „Spickmich“ heute exakt gleich entschieden würde, ist schwer zu sagen. Die DSGVO legt die Messlatte für den Datenschutz höher. Entscheidend wären immer die Umstände des Einzelfalls, die konkrete Ausgestaltung der Plattform, die Art der Bewertungen und die nachweisbaren Auswirkungen auf die betroffene Person.

Was können Sie aus dem Urteil mitnehmen?

  1. Meinungsfreiheit wiegt schwer: Das Recht, seine Meinung frei zu äußern – auch kritisch und im Internet – ist ein hohes Gut.
  2. Berufliche Tätigkeit in der Sozialsphäre: Wer sich beruflich in die Öffentlichkeit begibt (wie Lehrer), muss sich tendenziell mehr Kritik gefallen lassen als im rein privaten Bereich.
  3. Anonymität kann geschützt sein: Um freie Meinungsäußerung zu ermöglichen, kann Anonymität im Netz zulässig und sogar notwendig sein.
  4. Kein Freibrief für Schmähkritik: Die Meinungsfreiheit hat Grenzen, z.B. bei Beleidigungen, Schmähkritik oder unwahren Tatsachenbehauptungen, die die Person herabwürdigen.
  5. Plattformbetreiber in der Verantwortung: Auch wenn Betreiber Inhalte nicht selbst erstellen, haben sie Pflichten (z.B. bei Kenntnis von Rechtsverstößen zu handeln).
  6. Datenschutz ist immer zu beachten: Die Verarbeitung personenbezogener Daten (und Bewertungen sind das!) braucht eine Rechtsgrundlage. Die Abwägung berechtigter Interessen ist oft der Schlüssel.

Das „Spickmich“-Urteil war und ist ein Meilenstein. Es zeigt eindrücklich, wie Gerichte versuchen, traditionelle Grundrechte auf die Herausforderungen der digitalen Welt anzuwenden. Es ist ein Balanceakt, der immer wieder neu austariert werden muss.

Ich hoffe, dieser Einblick in das „Spickmich“-Urteil war für Sie verständlich und interessant. Wenn Sie Fragen zu Persönlichkeitsrechten im Internet, Datenschutz oder der Haftung für Online-Inhalte haben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.

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