Stellen Sie sich vor, Sie sind Arzt. Sie arbeiten hart, kümmern sich um Ihre Patienten, bauen über Jahre eine Praxis auf. Und dann das: Im Internet, auf einem Bewertungsportal, tauchen plötzlich Kommentare auf, die Sie nicht nur kritisieren, sondern falsche Tatsachen behaupten, die Ihren Ruf massiv schädigen könnten. Von angeblich herumliegenden Patientenakten ist die Rede, von langen Wartezeiten, ja sogar von Behandlungsfehlern. Sie wissen, das stimmt nicht. Sie bitten den Portalbetreiber, die BewertungenBewertungen sind Rückmeldungen oder Beurteilungen von Produ... Mehr zu löschen, was dieser auch tut – zunächst. Doch kurz darauf erscheinen ähnliche oder sogar wortgleiche Unwahrheiten wieder. Sie fühlen sich hilflos. Natürlich können Sie erneut die Löschung verlangen. Aber wer steckt dahinter? Wer verbreitet diese Lügen? Sie wollen den Verfasser zur Rede stellen, vielleicht sogar auf Schadensersatz verklagen. Also fordern Sie vom Portalbetreiber: „Nennen Sie mir Name und Anschrift dieser Person!“. BGH-Urteil zu Arztbewertungen.
Klingt nach einem nachvollziehbaren Wunsch, oder? Doch genau dieser Wunsch führte zu einem Rechtsstreit, der bis vor den BundesgerichtshofDer Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste deutsche Gerich... Mehr (BGH), Deutschlands höchstes Zivilgericht, ging und in einem Urteil mündete, das für viel Diskussion sorgt – insbesondere unter uns IT-Rechtlern (BGH, Urteil vom 1. Juli 2014 – VI ZR 345/13).
Als Fachanwalt für IT-Recht möchte ich Ihnen dieses wichtige Urteil heute erklären – ohne Juristen-Kauderwelsch, dafür mit Blick auf die praktischen Folgen für uns alle im digitalen Zeitalter. Denn es geht um eine Kernfrage des Internets: Wie viel Schutz verdient die Anonymität, wenn sie missbraucht wird, um andere zu schädigen? Und was wiegt schwerer: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz) oder das Persönlichkeitsrecht des Verleumdeten?
Inhaltsverzeichnis BGH-Urteil zu Arztbewertungen
- Der Fall: Arzt gegen Bewertungsportal
- Die Bremse: Das Telemediengesetz (TMG)
- Die Entscheidung des BGH-Urteil zu Arztbewertungen: Datenschutz geht (vorerst) vor
- Was bedeutet das Urteil in der Praxis? Eine IT-Anwalts-Perspektive
- Kritik und Ausblick BGH-Urteil zu Arztbewertungen: Ist das fair?
- Fazit BGH-Urteil zu Arztbewertungen
- BGH-Urteil zu Arztbewertungen? Fachanwalt hilft bundesweit.
Der Fall: Arzt gegen Bewertungsportal
Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Ein Arzt entdeckte auf einem Ärztebewertungsportal rufschädigende und unwahre Behauptungen über seine Praxis und seine Arbeit. Nachdem die ersten Einträge nach seiner Beschwerde gelöscht wurden, tauchten neue, teils identische Kommentare wieder auf. Der Arzt zog vor Gericht. Er wollte nicht nur, dass das Portal diese Behauptungen nicht mehr verbreitet (Unterlassungsanspruch) – darin gaben ihm die Gerichte auch recht. Außerdem hatte der Arzt ein Interesse daran, wer die Bewertung vom 4. Juli 2012 verfasst hatte. Er verlangte vom Portalbetreiber Auskunft über Name und Anschrift des Nutzers, der hinter dem anonymen oder pseudonymen Profil steckte.
Die ersten beiden Instanzen (LandgerichtEin Landgericht ist ein Gericht der ordentlichen Gerichtsbar... Mehr und OberlandesgerichtEin Oberlandesgericht (OLG) ist ein Gericht der oberen Insta... Mehr Stuttgart) gaben dem Arzt auch in diesem Punkt recht. Sie meinten, der Arzt habe nach Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) einen Anspruch darauf, zu erfahren, wer ihn da im Netz verleumdet, um gegen diese Person vorgehen zu können. Ein solcher Auskunftsanspruch könne sich auch gegen Dritte (hier das Portal) richten, die nicht selbst der Täter sind, aber über die notwendigen Informationen verfügen. Klingt logisch, nicht wahr? Wenn jemand die Regeln bricht, sollte man doch erfahren dürfen, wer es war, um ihn zur Verantwortung zu ziehen.
Die Bremse: Das Telemediengesetz (TMG)
Doch der Portalbetreiber (die Beklagte) wehrte sich und zog bis vor den BGH. Sein Hauptargument: Das Telemediengesetz (TMG) verbiete ihm die Herausgabe der Nutzerdaten. Und hier wird es juristisch spannend, aber keine Sorge, wir gehen das Schritt für Schritt durch.
Das TMG ist quasi das Grundgesetz für viele Online-Dienste in Deutschland. Es regelt die Pflichten und Rechte von Anbietern von Webseiten, Portalen, Foren etc. (sogenannten „Diensteanbietern“). Zwei Vorschriften sind hier entscheidend:
- § 12 Abs. 2 TMG – Der strenge Zweckbindungsgrundsatz: Diese Regelung ist ein Kernstück des Datenschutzrechts im TMG. Sie besagt vereinfacht: Personenbezogene Daten (wie Name, Adresse, E-Mail, IP-Adresse), die ein Diensteanbieter erhebt, um seinen Dienst überhaupt anbieten zu können (z.B. bei der Registrierung auf dem Portal), darf er für andere Zwecke grundsätzlich nur verwenden, wenn entweder der Nutzer ausdrücklich eingewilligt hat oder ein Gesetz dies ausdrücklich erlaubt. Und „verwenden“ meint hier auch die Weitergabe an Dritte. Die Hürde liegt also hoch: Gibt es kein Gesetz, das speziell für Telemedien die Weitergabe erlaubt, bleiben die Daten unter Verschluss, es sei denn, der Nutzer stimmt zu. Der allgemeine Grundsatz von „Treu und Glauben“ aus dem BGB reicht hierfür nicht aus, so der BGH, da er sich eben nicht ausdrücklich auf Telemedien bezieht.
- § 14 Abs. 2 TMG – Die Ausnahmen von der Regel: Dieses Gesetz (in Verbindung mit § 15 Abs. 5 Satz 4 TMG für Nutzungsdaten ) nennt die Fälle, in denen ein Diensteanbieter Daten herausgeben darf (und auf Anordnung einer Behörde sogar muss). Und jetzt kommt der Knackpunkt: Die Herausgabe ist erlaubt für Zwecke der Strafverfolgung, zur Gefahrenabwehr (Polizei, Verfassungsschutz etc.) oder – und das wurde erst später hinzugefügt – zur Durchsetzung von Rechten am geistigen Eigentum (z.B. Urheberrechtsverletzungen in Tauschbörsen). Was aber fehlt in dieser Liste? Genau: die Durchsetzung von Persönlichkeitsrechten.
Die Entscheidung des BGH-Urteil zu Arztbewertungen: Datenschutz geht (vorerst) vor
Der BGH folgte der Argumentation des Portalbetreibers und wies den Auskunftsanspruch des Arztes ab. Die Begründung ist für uns IT-Rechtler zentral und hat weitreichende Folgen:
- Keine Rechtsgrundlage im TMG: Der BGH stellte klar, dass § 12 Abs. 2 TMG die Herausgabe der Daten verbietet, weil es keine spezielle gesetzliche Erlaubnisnorm gibt, die dem Portalbetreiber gestatten würde, die Nutzerdaten zur Erfüllung eines zivilrechtlichen Auskunftsanspruchs wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung herauszugeben. Der allgemeine Auskunftsanspruch aus § 242 BGB ist keine solche spezielle Erlaubnis im Sinne des TMG.
- § 14 Abs. 2 TMG passt nicht: Die Ausnahmeregelung des § 14 Abs. 2 TMG hilft dem Arzt nicht, da sie Persönlichkeitsrechtsverletzungen schlicht nicht erwähnt. Der Gesetzgeber hat die Herausgabe nur für bestimmte Zwecke (Strafverfolgung, Gefahrenabwehr, geistiges Eigentum) erlaubt, nicht aber für die zivilrechtliche Verfolgung von Ehrverletzungen.
- Keine Analogie möglich: Der Arzt argumentierte sinngemäß: „Wenn Daten für Urheberrechtsverletzungen herausgegeben werden dürfen, dann muss das doch erst recht für schwerwiegende Persönlichkeitsverletzungen gelten!“ Juristen nennen das eine „analoge Anwendung“ einer Vorschrift. Doch der BGH lehnte dies ab. Warum? Weil er keine „planwidrige Regelungslücke“ sah. Das bedeutet: Der Gesetzgeber hat das Problem durchaus gesehen und diskutiert, als er das TMG änderte, um die Herausgabe bei Verletzungen des geistigen Eigentums zu ermöglichen. In den Beratungen wurde explizit angesprochen, ob man nicht auch Persönlichkeitsrechte aufnehmen sollte. Es gab Stimmen dafür und dagegen (mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Strafverfolgung). Der Gesetzgeber entschied sich aber bewusst dagegen, Persönlichkeitsrechte in § 14 Abs. 2 TMG aufzunehmen. Daher, so der BGH, könne das Gericht diese bewusste Entscheidung des Gesetzgebers nicht einfach durch eine Analogie korrigieren. Es sei Sache des Gesetzgebers, hier tätig zu werden, wenn er eine Ausweitung wünsche.
Übrigens: Die Frage, ob das Recht auf anonyme oder pseudonyme Nutzung von Telemedien (§ 13 Abs. 6 TMG ) dem Auskunftsanspruch generell entgegensteht, ließ der BGH ausdrücklich offen, weil es darauf nach seiner restlichen Begründung schon nicht mehr ankam.
Was bedeutet das Urteil in der Praxis? Eine IT-Anwalts-Perspektive
Dieses Urteil hat erhebliche Konsequenzen:
- Für Portalbetreiber (Webseiten, Foren, soziale Netzwerke): Sie sitzen oft zwischen den Stühlen. Einerseits müssen sie rechtswidrige Inhalte löschen, wenn sie davon Kenntnis erlangen (sog. Störerhaftung, vgl. ). Andererseits dürfen sie die Identität der Nutzer, die diese Inhalte eingestellt haben, gegenüber den Opfern von Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Rahmen eines zivilrechtlichen Auskunftsanspruchs grundsätzlich nicht preisgeben. Das Risiko, gegen Datenschutzrecht (§ 12 TMG) zu verstoßen, ist zu hoch. Eine Ausnahme bestünde nur mit Einwilligung des Nutzers oder wenn der Gesetzgeber eine explizite Erlaubnis schafft. Sie müssen Daten aber weiterhin herausgeben, wenn z.B. die Staatsanwaltschaft wegen einer Straftat (Beleidigung, Verleumdung etc.) ermittelt und die Herausgabe anordnet (§ 14 Abs. 2 TMG).
- Für Nutzer: Die Anonymität oder Pseudonymität im Netz genießt einen hohen Schutz gegenüber zivilrechtlichen Ansprüchen wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Das stärkt die Meinungsfreiheit, da Nutzer weniger befürchten müssen, sofort identifiziert zu werden, wenn sie Kritik äußern. Die Kehrseite: Es schützt eben auch diejenigen, die die Anonymität für rechtswidrige Hetze, Lügen und Beleidigungen missbrauchen. Völlig vogelfrei sind sie aber nicht – der Weg über eine Strafanzeige bleibt (siehe nächster Punkt).
- Für Betroffene (wie den Arzt): Das Urteil ist zweifellos ein Rückschlag für den direkten zivilrechtlichen Kampf gegen anonyme Verleumder. Sie können zwar weiterhin die Löschung der Inhalte vom Portalbetreiber verlangen. Sie erfahren aber auf diesem Weg in der Regel nicht, wer der Täter ist. Was bleibt? Der oft mühsamere Weg über eine Strafanzeige bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft (z.B. wegen Beleidigung, übler Nachrede, Verleumdung). Denn für Zwecke der Strafverfolgung darf der Provider die Daten herausgeben (§ 14 Abs. 2 TMG). Ob die Ermittlungen dann aber erfolgreich sind und zur Identifizierung des Täters führen, steht auf einem anderen Blatt (Stichwort: IP-Adressen-Speicherung, VPNs etc.). Zudem muss die Schwelle zur Straftat überschritten sein.
Kritik und Ausblick BGH-Urteil zu Arztbewertungen: Ist das fair?
Aus Sicht des IT-Rechts ist das Urteil konsequent im Sinne des Gesetzeswortlauts und der Gesetzgebungsgeschichte. Der BGH hat sich an die Vorgaben des TMG gehalten und betont, dass für eine Änderung der Gesetzgeber zuständig ist.
Dennoch bleibt ein Gefühl der Unzufriedenheit, das auch der BGH indirekt andeutet, wenn er die Beschränkung der Auskunft auf Rechte des geistigen Eigentums als „wenig nachvollziehbar“ bezeichnet. Warum sollte der Schutz eines Markennamens oder eines Fotos im Netz durch einen Auskunftsanspruch bessergestellt sein als der Schutz der persönlichen Ehre und des guten Rufs eines Menschen? Ist der wirtschaftliche Schaden durch eine Produktpiraterie wirklich gravierender als der menschliche und berufliche Schaden durch eine gezielte Verleumdungskampagne?
Die Entscheidung zwingt Opfer von Online-Verleumdungen auf den potenziell umständlicheren und unsicheren Weg der Strafverfolgung, um an die Täterdaten zu gelangen. Kritiker bemängeln, dass dies den Schutz der Persönlichkeitsrechte im Netz schwächt. Befürworter halten dagegen, dass der Schutz der Anonymität für die freie MeinungsäußerungEine Meinungsäußerung ist die Verbalisierung oder schriftl... Mehr im Internet unerlässlich ist und eine zu leichte Herausgabe von Nutzerdaten abschreckend wirken könnte (sog. „Chilling Effects“).
Der Gesetzgeber hat übrigens reagiert – allerdings nicht durch eine Änderung des TMG (das inzwischen durch das Digitale-Dienste-Gesetz und das Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetz abgelöst wurde, wobei die Grundprinzipien ähnlich blieben), sondern durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Dieses verpflichtet große soziale Netzwerke unter bestimmten Voraussetzungen, bei bestimmten schweren Straftaten (nicht aber bei „einfachen“ Beleidigungen) Daten an das BKA zu melden, die dann für Strafverfolgung oder unter Umständen auch für zivilrechtliche Auskunftsansprüche genutzt werden können. Es bleibt aber ein komplexes Feld.
Fazit BGH-Urteil zu Arztbewertungen
Das BGH-Urteil zu Arztbewertungen VI ZR 345/13 ist ein Meilenstein im Spannungsfeld zwischen Datenschutz, Anonymität und Persönlichkeitsschutz im Internet. Es hat klargestellt: Nach der damaligen (und in Grundzügen auch heutigen) Rechtslage gibt es keinen direkten zivilrechtlichen Anspruch gegen einen Portalbetreiber auf Herausgabe der Daten eines anonymen Nutzers, nur weil dieser eine Persönlichkeitsrechtsverletzung begangen hat. Der Datenschutz und die strenge Zweckbindung des Telemediengesetzes gehen hier vor.
Für Betroffene bedeutet dies, dass der Weg zur Identifizierung des Täters primär über eine Strafanzeige führt. Für Portalbetreiber schafft es (relative) Rechtssicherheit, dass sie nicht ohne Weiteres Nutzerdaten herausgeben dürfen und sich dabei nicht auf eine unsichere Rechtslage berufen müssen.
Die Diskussion darüber, ob diese Balance richtig ist oder ob der Gesetzgeber den Schutz von Persönlichkeitsrechten durch einen direkten zivilrechtlichen Auskunftsanspruch stärken sollte, geht weiter. Es bleibt eine der zentralen Herausforderungen des digitalen Zeitalters, die Freiheit des Netzes mit dem Schutz des Einzelnen in Einklang zu bringen.
Ich hoffe, diese ausführliche Erklärung hilft Ihnen, das Urteil und seine Bedeutung besser zu verstehen. Wenn Sie Fragen haben, sei es zu diesem Urteil oder anderen IT-rechtlichen Themen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.