BGH-Urteil VI ZR 204/74: „Halsabschneider“ als Schmähkritik und die Grenzen zulässiger Meinungsäußerung im Reputationsrecht

Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 1. Februar 1977 (Az. VI ZR 204/74) stellt einen juristischen Meilenstein zur Abgrenzung von zulässiger Meinungsäußerung und unzulässiger Schmähkritik dar. Insbesondere geht es um die Frage, ob die Bezeichnung eines Unternehmers als „Halsabschneider“ durch eine Gewerkschaftszeitung eine gerechtfertigte Kritik oder eine rufschädigende Schmähung ist. Das Urteil ist für das Reputationsmanagement, insbesondere im Kontext der Entfernung negativer Bewertungen im Internet, von fundamentaler Bedeutung.

Hintergrund des Falls

Der Kläger betrieb mehrere Glashütten in Deutschland und Österreich. Die Beklagte war eine Gewerkschaft, die für ihre Mitglieder die „Gewerkschaftspost“ herausgab. In einem Artikel dieser Zeitung wurde der Unternehmer als „Halsabschneider“ und „berüchtigter Chef der I.-Hütte“ bezeichnet. Der Artikel unterstellte dem Kläger unter anderem, ausbeuterische Lohnpraktiken anzuwenden und Misshandlungen von Mitarbeiterinnen in seinen Betrieben zu dulden.

Die Aussagen zielten klar auf das Geschäftsgebaren des Unternehmers ab und hatten somit erhebliche Auswirkungen auf seinen beruflichen Ruf. Der Unternehmer verklagte daraufhin die Gewerkschaft und die verantwortlichen Redakteure auf Unterlassung und Widerruf der Aussagen.

Streitgegenständliche Aussagen

Die strittigen Aussagen umfassten:

  1. Die Bezeichnung des Klägers als „Halsabschneider“.
  2. Die Bezeichnung als „berüchtigter Chef der I.-Hütte“.
  3. Die Darstellung, dass er ein Glaswerk nicht kaufen konnte, weil die Belegschaft sich gegen ihn aussprach.
  4. Die Behauptung, der Kläger habe 220 Mitarbeiter wegen eines 20-minütigen Streiks entlassen.
  5. Die Behauptung, der Kläger dulde Misshandlungen von Mitarbeiterinnen.

Erstinstanzliche und Berufungsentscheidungen

Das Landgericht hatte den Beklagten untersagt, einige der Aussagen zu verbreiten, darunter auch die „Halsabschneider“-Bezeichnung. Das Oberlandesgericht (OLG) hob diese Entscheidung in Teilen auf und befand, dass ein Teil der Aussagen unter die Meinungsfreiheit falle und daher zulässig sei.

Entscheidung des BGH

Der BGH differenzierte in seiner Entscheidung zwischen zulässiger Meinungsäußerung und unzulässiger Schmähkritik. Grundsätzlich ist auch eine scharfe, polemische und überspitzte Kritik durch Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit) geschützt. Jedoch gilt diese Freiheit nicht uneingeschränkt, wenn die Kritik in Schmähungen umschlägt.

Die Bezeichnung „berüchtigter Chef“ wurde vom BGH als noch zulässige Meinungsäußerung gewertet, da sie auf einer tatsächlichen Grundlage beruhte. Der Kläger war aufgrund seiner umstrittenen Lohnpolitik und anderer dokumentierter Vorkommnisse in der Branche negativ aufgefallen.

Anders beurteilte der BGH die Bezeichnung „Halsabschneider“. Dieses Wort wurde als Schmähkritik eingestuft. Der Begriff sei im allgemeinen Sprachgebrauch stark diffamierend und diene nicht mehr der Auseinandersetzung in der Sache, sondern lediglich der Herabwürdigung der Person. Damit verletze die Äußerung das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers nach Art. 1 und 2 GG in Verbindung mit § 823 Abs. 1 BGB.

Rechtliche Würdigung

Abgrenzung: Meinungsäußerung vs. Tatsachenbehauptung

Der BGH stellte klar, dass die Bezeichnung „Halsabschneider“ in diesem Kontext nicht lediglich eine Meinungsäußerung, sondern eine Schmäkung ist. Eine Meinung ist durch das subjektive Element gekennzeichnet und kann nicht auf ihre Wahrheit überprüft werden. Eine Tatsachenbehauptung hingegen ist dem Beweis zugänglich.

In diesem Fall wurde der Begriff „Halsabschneider“ jedoch nicht als sachliche Kritik einer bestimmten Handlung des Klägers verwendet, sondern als pauschales, ehrverletzendes Werturteil.

Schmähkritik

Schmähkritik liegt vor, wenn die Diffamierung der Person im Vordergrund steht und nicht mehr eine sachliche Auseinandersetzung mit deren Verhalten. Die Verwendung von Begriffen wie „Halsabschneider“ ist ein klassisches Beispiel für eine solche Schmähung.

Abwägung von Grundrechten

In seiner Entscheidung nahm der BGH eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit der Presse (Art. 5 Abs. 1 GG) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Klägers vor. Während in Arbeits- und Sozialkonflikten durchaus auch zugespitzte Kritik erlaubt ist, müssen die Grenzen gewahrt bleiben. Die Überschreitung dieser Grenze durch eine diffamierende Wortwahl wie „Halsabschneider“ kann nicht mehr durch die Pressefreiheit gedeckt sein.

Auswirkungen für das Reputationsmanagement

Dieses Urteil ist von zentraler Bedeutung für Unternehmen, die sich gegen rufschädigende Aussagen wehren wollen. Insbesondere im digitalen Zeitalter, wo negative Bewertungen, Blogbeiträge und Social-Media-Kommentare in Sekundenschnelle verbreitet werden können, bietet die Entscheidung eine wichtige Leitlinie.

Schlüsselaspekte für die Praxis:

  1. Zulässige Kritik vs. Schmähung: Auch harte Kritik ist erlaubt, solange sie nicht zur bloßen Herabwürdigung wird.
  2. Beweislast: Bei Tatsachenbehauptungen trifft den Äußernden die Beweislast für die Richtigkeit.
  3. Kontextbezogene Bewertung: Begriffe wie „Ausbeuter“ oder „Halsabschneider“ müssen im jeweiligen Kontext bewertet werden.
  4. Reaktion: Unternehmen sollten schnell juristisch reagieren, insbesondere mit Unterlassungsklagen und ggf. mit Widerrufsverlangen.

Bedeutung für die Löschung negativer Online-Bewertungen

Insbesondere die Begründung des BGH zur Unzulässigkeit von Schmähkritik kann für die Durchsetzung von Ansprüchen gegen rufschädigende Bewertungen in Google, Jameda oder auf Bewertungsplattformen wie Kununu oder Trustpilot genutzt werden. Wer als Unternehmer beispielsweise dort als „Halsabschneider“, „Betrüger“ oder ähnlich bezeichnet wird, kann diese Inhalte löschen lassen, sofern keine belegbaren Tatsachen dahinterstehen.

Fazit

Das Urteil VI ZR 204/74 stellt eine juristisch ausgewogene Entscheidung dar, die den Schutz der Meinungsfreiheit gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht abwägt. Es zeigt deutlich auf, dass selbst in einem konfliktgeladenen gesellschaftlichen Kontext wie dem Arbeitskampf rufschädigende Äußerungen ihre Grenzen haben. Für das Reputationsmanagement in der digitalen Welt liefert die Entscheidung eine unverzichtbare Grundlage, um juristisch fundiert gegen Übergriffe auf den geschäftlichen Ruf vorzugehen.

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